Der erste Schauplatz der Praxisschulung war das Vereinsheim und der Friedhof in Stephanskirchen. Dort begrüßte Bürgermeister Mair die 20 TeilnehmerInnen aus den beiden Öko-Modellregionen „Hochries-Kampenwand-Wendelstein“ und „Inn-Salzach“ und skizzierte die Biodiversitätsstrategie der Gemeinde Stephanskirchen. Diese beinhaltet neben dem kommunalen Mähkonzept beispielsweise die finanzielle Förderung der Artenanreicherung bei Grünland und Ackerrandstreifen, eine Wiesenmeisterschaft, ein Förderprogramm für Fassaden und Dachbegrünung sowie ein Beratungsangebot für private Waldbesitzer.
Thomas Fichter übernahm die Gruppe und stellte an insgesamt sechs Schauplätzen das von ihm entwickelte Mähkonzept vor. Fichter ist geprüfter Natur- und Landschaftspfleger und leitet den Grüntrupp der Gemeinde Stephanskirchen. Seit über zehn Jahren beschäftigt er sich mit Biodiversität und hat die Bewirtschaftung der kommunalen Flächen optimiert. Er konnte im Laufe der Jahre die Verwaltung, den Gemeinderat und die BürgerInnen von Stephanskirchen von seinem Mähkonzept überzeugen. Der große Vorteil: Das Konzept zahlt nicht nur auf das Biodiversitäts-Konto sondern auch in die Gemeindekasse ein. „Wir sparen Zeit, Kraftstoff und Dünger. Die meisten Flächen werden statt zehn bis zwölf Mal im Jahr nur noch zweimal im Jahr gemäht. Heimische Wildblumenarten wachsen am besten an nährstoffarmen Standorten, die man auf keinen Fall düngen sollte. Nach wie vor intensiv genutzte Flächen, wie beispielsweise Bolzplätze, können durch liegengelassenes Schnittgut gedüngt werden und so ist auch hier kein mineralischer Dünger nötig.“
Flächennutzung ist entscheidend
Fichter rät seinen Berufskollegen, dass sie sich die Flächen und deren Nutzung in ihrer Gemeinde genau anschauen. Bei der Fläche vor dem Stephanskirchner Vereinsheim reiche es beispielsweise, wenn sie nur zweimal im Jahr gemäht wird. Der ideale Mähzeitpunkt sei nach der Blüte, hier orientiert sich Fichter zum Beispiel an der Margerite. Idealerweise wird eine Mähtechnik gewählt, welche die ausgereiften Samen auf der Fläche verteilt. Wann immer es möglich ist, sollte Heu gemacht werden, denn das trage ebenfalls dazu bei, dass die Samen auf der Fläche verbleiben und gut verteilt werden. Schnittgut und Heu müssten von den Blühflächen unbedingt abtransportiert werden. Dies verhindere, dass die Flächen unnötig gedüngt werden und die Wildblumenarten durch andere, an nährstoffreichere und landwirtschaftlich genutzte Wiesen angepasste Arten verdrängt werden.
Gleichzeitig gibt es beispielsweise für Freizeitsport genutzte Flächen, die nach wie vor wöchentlich gemäht werden.
Eine Fläche wird zur artenreichen Blühfläche
Die meisten bunten Blühflächen in Stephanskirchen sind einzig durch die Anpassung von Mähzeitpunkt, Mähhäufigkeit und Mähtechnik entstanden. Fichter weiß, dass keimungsfähige Samen, Sprossteile oder Rhizome je nach Pflanzenart für sehr lange Zeit im Boden aktiv bleiben. Extensiviert man die Flächennutzung, können diese alten Arten wieder auftauchen.
Trotzdem hat er auch andere Wege zur Blühfläche ausprobiert. Bei der Fläche zwischen Bahngleis und der Kapelle zu Baierbach wurde eine „Veitshöchheimer Bienenweide“ ausgesät. Diese besteht aus verschiedenen einjährigen Kulturarten, zweijährigen Wild- und Kulturpflanzen sowie aus Wildstauden. Diese Mischung soll reichlich Nektar und Pollen für Bienen, Hummeln und Schmetterlinge bieten.
Bei einer weiteren Fläche südlich der Gleise am Sonnblickweg, wurde vor 3 Jahren Boden abgetragen und eine Saatgutmischung ausgebracht. Beim Saatgutkauf achtet Fichter auf eine gesicherte Herkunft und auf Regio-Saatgut. Hilfreich sei es auch, wenn das Saatgut einjährige Pflanzen enthält, durch die bereits im ersten Jahr ein schönes Straßenbild entsteht.
Auch bei der Neuansaat der Verkehrsinseln zur Verkehrsberuhigung in der Hubertusstraße enthielt das Saatgut einjährige Blühpflanzen. Fichter sieht die Verkehrsinseln als sogenannte Trittsteine. Trittsteine schaffen eine Verbindung zwischen Biotopen. Das sei wichtig, da Pflanzen und Tiere nur bestimmte Distanzen überwinden können. So hat beispielsweise jedes Fluginsekt einen maximalen Flugradius, den es zurücklegen kann. Sind Biotope zu weit voneinander entfernt, können Pflanzen und Tiere nicht übersiedeln.
Bei einer Fläche an der Westerndorferstraße, die mit einer Umkehrfräse behandelt wurde, entwickelte sich Hühnerhirse, die schnell in Konkurrenz mit den anderen Arten trat. „Man weiß nie, welche sogenannten „Schläfer“ man weckt, die unerwünscht keimen“, so Fichter. Durch mehrmalige Mahd habe man die Hühnerhirse jedoch wieder zurückgedrängt und so ist sie mittlerweile wieder verschwunden.
Fichter ermuntert seine Berufskollegen, den Mähzeitpunkt und die Mähhäufigkeit auf geeigneten Flächen anzupassen. Er empfiehlt, Bürgerinnen und Bürger über die veränderte Flächenbewirtschaftung aktiv zu informieren. „Der Zeitpunkt ist gut, nach dem Volksbegehren „Rettet die Bienen“ ist die Bevölkerung und die Politik offen für neue Maßnahmen zum Erhalt der Arten und akzeptiert auch einen nicht gemähten Blühstreifen am Friedhof!“
Marktplatz der biologischen Vielfalt
Stephanskirchen ist eine von 10 Projektgemeinden der bayernweiten Initiative „Marktplatz der biologischen Vielfalt“. Florian Lang, Projektleiter vom „Marktplatz der biologischen Vielfalt“, erklärte in einer der Praxisschulung vorausgegangenen Veranstaltung den Begriff der Biodiversität. Biodiversität umfasse demnach die Vielfalt der Lebensräume, die Vielfalt der Arten und die genetische Vielfalt. Sie sei von großer Bedeutung für den Menschen, die Biodiversität ist Grundlage für z. B. Medikamente, die Bestäubung von Nutzpflanzen und die Fruchtbarkeit unserer Böden. Das Artensterben verglich er mit einem Spiel, bei dem die Spieler aus einem Turm aus Holzklötzchen ein Klötzchen nach dem anderen ziehen, bis der Turm in sich zusammenfällt. Wie lange die Öko-Systeme trotz der aussterbenden Arten noch funktionieren werden, könne derzeit kein Experte voraussagen. Klar sei nur, dass verschwundene Arten für immer verloren sind. Auch die Situation im Alpenraum sei erschreckend: Rund 60 % der Lebensraumtypen seien gefährdet bzw. von der vollständigen Vernichtung bedroht. Umso wichtiger sei, dass die Gemeinden in Hinblick auf den Biodiversitätsschutz aktiv werden und engagiertes Handeln mit langfristigen Konzepten kombinieren.