Der vergessene Zusammenhang von Bio-Milch und Bio-Fleisch
Wussten Sie, dass eine Kuh jedes Jahr ein Kälbchen bekommt, damit Sie gemolken werden kann? Die weiblichen Kälbchen werden zum Großteil am Geburtsbetrieb aufgezogen, um den Platz von austretenden Kühen aus der Herde einzunehmen. Doch was passiert mit den anderen Kälbern, insbesonderen den männlichen, die nicht zur Milcherzeugung genutzt werden können?
Diese Kälber werden in aller Regel zur Mast in den konventionellen Markt verkauft. Grund ist, dass Bio-Milchviehbetrieben die Grundlagen für eine wirtschaftlich tragfähige Mast fehlen. Bio-Källber müssen bis zur zwölften Lebenswoche Vollmilch erhalten. Der Bio-Milchpreis ist knapp berechnet, sodass der entstehende Ausfall an Milchgeldeinnahmen nicht gedeckt ist. Dieser monetäre Ausfall müsste über den Fleischabsatz aus der Mast gedeckt werden. Auch hier ist das Problem: Es gibt keinen ausreichend großen Absatzmarkt für Bio-Rindfleisch. Laut Statistik greifen Verbraucher zur Bio-Milch, aber kaum zum Bio-Fleisch. Folge ist, dass alle männlichen Bio-Kälber und der übrige Teil der weiblichen Bio-Kälber, auf dem konventionellen Markt, der die erforderlichen Absatzstrukturen hat, verkauft werden müssen. Für das Kalb ergeben sich wesentliche Einbußen. Wie in den Medien kontrovers diskutiert wird, müssen sie unter Umständen weite Transportwege zum nächsten Aufzuchtbetrieb überstehen. Auf dem neuen Betrieb gibt es kostengünstiges Milchpulver anstatt wertvolle Vollmilch. Außerdem haben die Kälber keinen Anspruch mehr auf einen Weidezugang. Anstatt artgemäßer Fütterung über Weide, kommen in der Regel hauptsächlich Maissilage und gentechnisch veränderte Kraftfuttermittel zum Einsatz.
Gründung einer Arbeitsgemeinschaft "Bio-Weide-Rindfleisch" im Landkreis Altötting
Ein Zusammenschluss junger Bio-Milchviehhalter aus dem Landkreis Altötting findet, dass das auch anders gehen muss. Sie haben, zusammen mit der Projektmanagerin Amira Zaghdoudi eine Arbeitsgruppe gegründet, um gemeinsam erforderliche Absatzstrukturen aufzubauen. Ziel ist, dass alle Kälber, die auf Bio-Milchviehbetrieben geboren werden, zukünftig nicht mehr konventionell vermarktet und auf eine weite Reise geschickt werden müssen. Stattdessen sollen die Kälber im eigenen Betrieb und anschließend auf Bio-Mastbetrieben mit Weidegang aufgezogen und im Landkreis Altötting verkauft werden. Aber wie kann das gelingen?
Biokalb Oberland – es geht nur Hand in Hand
In Zusammenarbeit mit drei bayerischen Öko-Modellregionen wurde eine Exkursion ins Miesbacher Oberland organisiert, die zeigte, wie schon jetzt neue Wege gegangen werden. Ganz nach dem Motto "von den alten lernen". An einem sonnigen Wintertag trafen sich ca. 60 LandwirteInnen, VerbraucherInnen und ProjektmanagerInnen, aus ganz süd-ost-Bayern am Hairerhof der Familie Stürzer in Wall bei Warngau. Es ging um die Aufzucht ihrer Kälber und weiterführende Vermarktung in der Region. Dazu gehört zum einen, dass Kälber auf natürlichem Weg am Euter trinken können. Zum anderen soll eine Weidehaltung folgen, durch die eine wesensgemäße Rinderaufzucht auch im späteren Alter wird. Dass zahlreiche Menschen sich hier tragen zeigt, dass das Thema den Puls der Zeit trifft.
Der Hairerhof ist einer von elf Bio-Bauernhöfen im Miesbacher Oberland, die unter der Marke „Biokalb Oberland“ kuhgebundene Kälberaufzucht, langsame Weidemast und regionale Vermarktung unter einen Hut bringen. Angefangen hat alles vor fünf Jahren, erzählt Albert Stürzer. Wie sie das schaffen? Nur gemeinsam!
Albert und Marina Stürzer kümmern sich um die Kuhgebundene Kälberaufzucht. Dass die Kälber am Euter trinken, war anfangs eine Umstellung. Zur Arbeitsbelastung sagen beide: „Man muss es wollen. Und Geduld mitbringen. Aber irgendwann läuft es. Dann ist es keine größere Arbeitsbelastung mehr als vorher. Dafür passt die Kälbergesundheit und die Tiere entwickeln sich prächtig“. Den uralten, bislang ungenutzten, Anbindestall haben sie kostengünstig umgebaut und einen Kuh-Kalb-Begegnungsplatz geschaffen. Hier können 3 Kälber pro Amme trinken.
Nach 6 Wochen werden die Kälber an Josef Schäfflers Hof in den Nachbarort weiter aufgezogen. Er hat zwei Ammenkühe von Albert Stürzer gekauft, welche die Kälber bis zur zwölften Lebenswoche tränken. Müssen die Ammenkühe in die „Milchpause“ (2 Monate/Jahr), „tauscht“ Josef die Kuh gehen eine neue Amme von Albert. Neben dem Genuss, am Euter trinken zu dürfen, geht es ab Frühjahr auf die Weide. „Ein schöner Nebenerwerb“ wie Josef sagt. Mit der Milchwirtschaft haben sie aufgehört. Die Aufzucht der Kälber mit Ammen und die anschließende langsame Weidemast haben ihnen neue Perspektiven geben, um den landwirtschaftlichen Betrieb zu erhalten.
Geschlachtet wird am Hof selbst, maximal stressarm, durch Weideschuss. Zwei benachbarte Metzger übernehmen die Zerlegung und besonders lange Fleischreifung von drei Wochen (regulär 2 Tage). Das kostet zwar Lagerraum, führt jedoch zur besonderen Fleischreife.
Ein anderer Bio-Bauer ist in der Lokalpolitik aktiv und bringt ein gutes Netzwerk mit, um die Öffentlichkeit zu informieren. Ein weiterer ist fit im Webdesign und hat eine Vermarktungsplattform entwickelt, über die einmal pro Monat 10kg-Fleischpakete für 18 Euro pro kg vorbestellt und am Hairerhof verkauft werden.
Am Verkaufstag bietet die Familie Stürzer Hofführungen und beantwortet alle Fragen der BürgerInnen rund um das Gemeinschafts-Projekt. Darüber hinaus kommen pro Jahr etwa 300 Kinder im Rahmen von Schulausflügen an den Hairerhof. „Hofführungen und Bauernhofpädagogik schaffen das Bewusstsein für die besondere Lebensmittelqualität – sowohl bei Kindern, als auch bei Eltern“ betonen Albert und Martina immer wieder. Das hat der Vermarktung einen ordentlichen Schub gegeben und schafft langfristige Kundenbindungen.
Der Hairerhof hat es durch das Gemeinschaftsprojekt geschafft Tierwohl, regionale Vermarktung und höchste Fleischqualität wie es kaum ein anderer Betrieb schafft, zu verbinden. Möglich wird das, indem unterschiedliche Talente und Netzwerke gebündelt werden. Hinzukommend sind neue Vermarktungsperspektiven für kleinbäurerliche Betriebe, die vor der Betriebsaufgabe standen, entwickelt worden. Getragen wird die Intitiative jedoch von der Verbindung zu den BürgerInnen, die die besondere Qualität des Fleisches und den Mehrwert für ihre Region kennen und wertschätzen.
Wir danken den Familien Stürzer und Schäffler für den gelungenen interessanten Einblick in ihr Erfolgskonzept, sowie Stephanie Stiller für das Engagement in der Öko-Modellregion Miesbacher Oberland.
Erlebnis-Biobauernhof
Albert und Marina Stürzer
Hairer 1
83627 Warngau - Wall
Link zum Haiererhof
Link zu Biokalb Oberland